LGBTI* in Mittelamerika

Zwischen Ehe, Flucht und Widerstand

Lateinamerikas LGBTI* Community hat sich Rechte erkämpft, leidet aber immer noch unter homo- und transphober Gewalt und Diskriminierung

Juni 2018 / Text: MARKUS PLATE

Demonstration der Widerstandsbewegung MDR - Homophobie nein, Sozialismus Ja
Foto: MDR

Im scheinbar so progressiv liberalen Europa reibt sich das Lateinamerika-interessierte und/oder LGBTI*-affine Publikum verwundert bis neidisch die Augen über Neuigkeiten vom Subkontinent. 2006: Mexiko-Stadt führt die Homo-Ehe ein. 2012: In Argentinien dürfen Menschen nun frei ihren Namen und ihr Geschlecht wählen. 2017: In Kolumbien schließen drei Männer gemeinsam den Bund der Ehe. Und im Januar dieses Jahres veröffentlichte der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in San José, Costa Rica ein Rechtsgutachten, das in der Praxis in naher Zukunft alle Mitgliedsländer dazu verpflichten könnte, die Ehe für alle zu öffnen. In vielen Belangen ist Lateinamerika also weiter als Deutschland.

Die positiven Nachrichten lassen sich fortsetzen: Laut einer Untersuchung der ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) aus dem Jahre 2016 findet nur noch eine kleine Minderheit (je nach Land zwischen 10 und 20 %), dass Homosexualität strafbar sein sollte und acht von zehn Lateinamerikaner*innen haben oder hätten überhaupt kein Problem damit, homosexuelle Nachbar*innen zu haben. Kolumbien schloss 2016 das weltweit erste Friedensabkommen (zwischen dem Staat und der FARC Guerrilla), in dem LGBTI*-Opfer ausdrücklich erwähnt und bedauert wurden. Mit Michelle Suárez und Diane Rodríguez haben Uruguay und Ecuador erste Trans*Personen als Abgeordnete, Argentinien mit Analía Pasantino sogar eine Transgender-Polizeichefin. All das sind Fortschritte, die noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren undenkbar schienen.

Fortschrittliche Gesetze

Mittlerweile ist die „Ehe für Alle“ Realität in Argentinien (seit 2010), Uruguay und Brasilien (2013), Kolumbien (2016) und in zwölf Bundesstaaten Mexikos, dazu in den meisten französisch- und niederländisch-sprachigen Ländern und Überseedepartments der Karibik. In diesen Ländern und Bundesstaaten können gleichgeschlechtliche Paare auch Kinder adoptieren. Chile und Ecuador haben zumindest die „Homoehe“, in Chile befindet sich die Öffnung der Ehe im Gesetzgebungsverfahren. In Argentinien, Bolivien, Kolumbien, Ecuador, Uruguay und Cuba können Trans*Personen mittlerweile ihren Namen und ihre Geschlechtsbezeichnung ohne vorherige Operation oder gerichtliche Erlaubnis ändern lassen. Fast alle Länder auf dem Kontinent verbieten wenigstens die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung.

Ein LGBTI*-Wundersubkontinent ist Lateinamerika dennoch nicht. Vor allem in den ehemals britischen Kolonien der Karibik sind homosexuelle Handlungen zwischen Männern nach wie vor illegal und offiziell strafbar. Honduras, Bolivien, Ecuador und Paraguay verbieten nach Verfassungsänderungen die Öffnung der Ehe. Das mag sich durch das Rechtsgutachten des Gerichtshofs für Menschenrechte in naher Zukunft ändern. Aber selbst wenn das so kommt: In fast allen Ländern Lateinamerikas und der Karibik bestehen Diskriminierungsformen weiter, die sich auch immer wieder gegen das Leben von Lesben, Schwulen und vor allem Trans*Personen richten.

Evangelikaler Eifer und homophobe Hetze

In Costa Rica hat die Gerichtsentscheidung direkt in den Präsidentschaftswahlkampf eingegriffen und den evangelikalen Eiferer Fabricio Alvarado mit homophoben Parolen von einstelligen Umfragewerten noch im Dezember bis in die Stichwahl am 1. April geführt. Das kleine zentralamerikanische Land hat in den Wochen vor der Wahl eine beispiellose Welle homophober Parolen und Übergriffe erlebt. Betroffene, wie die LGBTI-Aktivistin Daniela Muñoz, haben dies als so schlimm erlebt, dass die am Ende deutliche Niederlage Fabricio Alvarados bei ihr Tränen der Erleichterung auslöste.

In Kolumbien hat das reaktionäre Lager um Ex-Präsident Alvaro Uribe nichts unversucht gelassen, das Friedensabkommen zu torpedieren und sich dazu die Unterstützung v.a. evangelikaler Kirchen gesichert. Letztere laufen auch hier Sturm gegen eine angebliche „Gender Ideologie“, die ebenso angeblich die weltweite LGBTI-Bewegung zusammen mit der UNO auch in Kolumbien durchsetzen wolle. Dass in den Friedensverträgen das Wort „Gender“ oft genug auftaucht, reichte schon aus, um aus Christ*innen Friedensgegner*innen zu machen.

Der Machtzuwachs der Evangelikalen stellt für Lateinamerikas Lesben, Schwule und Trans*personen zumindest die größte politische Gefahr dar. Homosexuelle verdienten den Tod, riefen Gläubige längst nicht nur im costa-ricanischen Wahlkampf. Schließlich seien homosexuelle Handlungen eine Todsünde. Diese Position ist nicht neu. Neu ist der Machtzuwachs der bibeltreuen Hardliner. In Chile hatte sich der Konservative Sebastián Piñera erfolgreich mit ihnen verbündet, in Mexiko macht der linke und in allen Umfragen führende Präsidentschaftskandidat Andrés Manuel López Obrador dasselbe. Nicht nur Kirchenferne und Katholik*innen sehen das mit Sorge: Auch Lutheraner*innen und andere gemäßigte Protestant*innen widersprechen. In Costa Rica immerhin so lautstark, dass Fabricio Alvarado am Ende klar das Nachsehen hatte.

Alltägliche Gewalt und Verfolgung

Viel näher und bedrohlicher als evangelikale Hetze sind allerdings die tagtägliche Homophobie und Gewalt, denen sich Menschen unter dem Regenbogen ausgesetzt sehen – zumeist Ausdruck des gewaltbereiten Machismus, der Lateinamerika trotz aller Fortschritte nach wie vor von Mexiko bis Argentinien durchzieht. In El Salvador und Honduras sind der homo- und transphoben Gewalt in den letzten Jahren Hunderte Menschen zum Opfer gefallen. In den meisten Fällen wurden die Verantwortlichen nie vor Gericht gestellt. El Salvador hatzwar seit 2015 ein Gesetz gegen Hassverbrechen, auch auf Mord aus homophoben Motiven kann inzwischen in besonders schweren Fällen eine Haftstrafe von bis zu 65 Jahren verhängt werden. Ein wichtiges Signal an die Gesellschaft, auch wenn es bei der notorisch hohen Straffreiheit im Land nicht viel mehr als Symbol-Charakter haben dürfte.

Die Folge: Homosexuelle versuchen, aus der Region zu fliehen, nach Mexiko oder besser gleich in die USA, nach Spanien, auch nach Deutschland. Bei den seit 2010 organisierten Via Crucis (Kreuzweg-) Karawanen, mit denen die Organisation People without Borders auf die Gründe von Flucht aufmerksam machen will und die Bedingungen, unter denen Flüchtende migrieren müssen, marschierten auch dieses Jahr wieder Schwule, Lesben und Trans*Personen aus Honduras mit. In Costa Rica betreut die Organisation Albergue Abierto eine offene Herberge für Opfer homo- und transphober Gewalt aus Zentralamerika.

In Chile sorgte 2012 der bestialische Mord an Daniel Zamudio in einem Park in Santiago de Chile für Entsetzen. Vier mutmaßliche Neonazis hatten den jungen Schwulen überfallen und über Stunden auf brutalste Art und Weise gefoltert. Dieser Fall hat zumindest in Chile zu einem Umdenken geführt. 2013 wurden die Täter zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Vor allem aber unterstützt die Gesellschaft nun mit großer Mehrheit die Öffnung der Ehe.

Allerdings ist die Öffnung der Ehe nicht für alle Menschen unter dem Regenbogen das größte anzunehmende Glück. Vor allem trans*- und queer-feministische Strömungen sehen in ihr ein Symbol des traditionellen Herrschafts- und Wirtschaftssystems, in dem machistische Gewalt, soziale Ausgrenzung und prekäre Lebensverhältnisse einen festen Platz hätten. Während gerade die Trans*-Community für würdevolle Arbeit oder Zugang zum Gesundheitswesen, vor allem aber ums Überleben kämpfe, konzentriere sich die „offizielle“ LGBTI*-Bewegung, oft vertreten durch den gut situierten Hauptstadtaktivisten, auf die Integration in eben dieses System. Die Ehe für alle in Lateinamerika ist sicherlich ein wichtiger Etappensieg, sämtliche Diskriminierungsformen sind damit aber längst nicht überwunden.

Porträt von Kirsten Clodius

Ich bin für Ihre Fragen da:

Kirsten Clodius
Referentin für Honduras, Nicaragua
clodiusnoSpam@ci-romero.de
Telefon: 0251 - 674413-18